Der Heimstätten-Friedhof mit seiner Lehmkapelle
Die Lehmkapelle am Südhang des Wiehengebirges (Hüllhorst-Oberbauerschaft, Wiehengebirgsweg) ist Teil einer privaten Begräbnisstätte, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Grablegung für Pastor Gustav von Bodelschwingh (1872 – 1944) errichtet wurde.
Über 70 Jahre hielt sich diese Anlage unter dem aufwachsenden Baumbestand versteckt, bis sie zuletzt durch die Kahlflächen des Waldsterbens sichtbar wurde und auf sich aufmerksam machte. Nach zunächst unklaren Besitzverhältnissen wurde die Anlage 2022 grundbuchmäßig der gemeinnützigen Heimstätte Dünne GmbH übertragen. Die neuen Eigentümer haben anschließend den Friedhof mit seiner Kapelle in einem Nachbarschafts-Arbeitseinsatz wieder hergerichtet.
Erbaut wurde die Kapelle 1945/46 durch Adelheid Weerts, geb. von Bodelschwingh, die mit diesem Lehmbrotebau ihrem Vater, dem in der Region bekannten „Lehmpastor“, in besonderer Würdigung einen Erinnerungsort setzte.
Auf diesem Friedhof wurden neben Gustav von Bodelschwingh in den Folgejahren bestattet:
– seine Ehefrau Adelheid, geb. von Ledebur (1869 -1950),
– deren Schwester Marie von Ledebur (1872-1954)
und zwei der vier Kinder von Adelheid und Gustav:
– Bernhild (1908-1969) und
– Gustav, gen. „Ocka“ (1911-1966)
– sowie dessen Frau Else (1916-2012).
Diese Begräbnisstätte des heute nicht mehr bestehenden Zweiges der Familie von Bodelschwingh hat ihren besonderen Charakter durch die einzigartige Lehmbau-Kapelle nach der Bauweise Gustav von Bodelschwinghs.
Gustav v. Bodelschwingh,
Sohn des bekannten Betheler „Vater Bodelschwingh“, kam als junger Pastor 1901 in die Gemeinde Dünne (heute Ortsteil von Bünde) und trug bereits 1904 zum Bau der Dünner Kirche mit Gemeinde- und Pfarrhaus bei. Dem Wunsch seines Vaters folgend, ließ er sich mit seiner Familie 1911 für den Betheler Missionsdienst in das damalige Deutsch-Ostafrika (heutiges Tansania) entsenden. Im Ersten Weltkrieg geriet er dort in Gefangenschaft und kehrte erst 1922 fünfzigjährig nach längerer Erkrankung zurück – berufsunfähig, aber reich an Praxiserfahrungen der weithin unbekannten afrikanischen Kultur.
Zurück im Ravensberger Land knüpfte er an eine frühere Aktivität an, die 1907 mit fünf Dünner Bürgern gegründete „Heimstätte Dünne“. Diese hatte sich ursprünglich darum gekümmert, Grund und Boden aufzukaufen und preisgünstig an Familien zur eigenen Grundsicherung zu vermitteln. Hintergrund war eine massive Spekulationswelle im Zuge der sog. Verkopplung (Flurbereinigung).
Ein Jahrzehnt später, 1923, bei Massenarbeitslosigkeit und Inflation, erinnerte sich Gustav v. B. einer in Afrika gemachten Erfahrung: Dort hatte er eine besondere Hausbautechnik kennengelernt. Mit dem sog. Lehmbrote-Bauverfahren können sich
Menschen durch den kostenlos vorhandenen Baustoff Lehm in Selbsthilfe und nachbarschaftlicher Arbeit ein eigenes Haus und damit „Boden unter den Füssen“ schaffen.
Diesem afrikanischen Vorbild folgte er und baute 1923 zunächst für sich und seine Familie ein erstes Wohnhaus aus Lehmbroten. Ausgehend von diesem Pilotprojekt ermutigte er in den folgenden 12 Jahren zahlreiche mittellose Familien zum Bau eines Eigenheims – v.a. in der ostwestfälischen Nachbarschaft, später auch im Ruhrgebiet. Es entstanden mehr als 500 Häuser aus feuchten Lehmbroten, in Handarbeit durch Selbsthilfe und nachbarschaftlicher Arbeit.
Grundlage war der geniale Schachzug, dass er das „Dünner Lehmbrot-Verfahren“ als amtliche zugelassene Bauform eintragen ließ. Gemeinsam mit seiner Tochter Adelheid verfasste er die Lehmbau-Fibel: „Ein alter Baumeister, und was wir von ihm gelernt haben“ (der „alte Baumeister“ meint die Schwalbe). Es wird zu einer Werk-Anleitung , die mit seinen Versen und Bildern auch unerfahrene Laien zum Selbstbauen befähigt. (Neuauflage: 2023).
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und den Auswirkungen des „Dritten Reiches“ kamen die Dünner Gemeinschaftsprojekte allmählich zum Erliegen, wobei sich Bodelschwingh durch seine persönliche Hitler-Verehrung zunehmend in politische Auseinandersetzungen verwickelte. Seine Siedlungsprogramme, für das er den „Führer“ zu gewinnen suchte, ließen ihn schließlich zu einem Einzelgänger werden. Gustav von Bodelschwingh Er starb 1944.
Seine Tochter Adelheid , in deren Händen die Leitung der Baucamps inzwischen lag, lehnte die politische Haltung ihres Vaters strikt ab. Gleichwohl errcichtete sie zur Erinnerung an die Aufbauleistung früherer Jahre auf dieser Begräbnisstätte das Modell eines Lehmbrotebaus in Gestalt einer Kapelle – unterstützt von Schulkindern und Nachbarn.
Dieser Ort bieten weiten Blick ins Ravensberger Land und erinnert an einen engagierten Menschen, der mit Genialität, Gottvertrauen und Menschennähe anderen dazu verhalf, sich durch nachhaltiges Bauen „Boden unter den Füssen“ zu verschaffen. Dies unterstreicht der Spruch auf seinem Grabstein: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“ (Sprüche 31, 8).
Adelheid Weerts hat nach dem Tode des Vaters den Gedanken des Lehmbaus über den Zweiten Weltkrieg hinaus weitergetragen. Ein Zeugnis ist u.a. der Einsatz der „Dünner Gruppe“ beim Aufbau der Stadt Espelkamp. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2005 warb Adelheid Weerts ihr Leben lang für den Lehmbau. Eine Tafel auf dem Friedhof erinnert an ihre bescheidene, menschenprägende und -bildende Ausstrahlungskraft.
Mit diesem Denkort möchte die heute noch aktive Heimstätte Dünne GmbH auf ihre über 100jährige Geschichte, u.a. auf die 500 größtenteils noch bestehenden Lehmhäuser der 1920er und 1930er Jahre und auf die noch bestehende Lehmbausiedlung als „Musterhaussiedlung“ in der Bodelschwinghstr. 116-130 in Bünde verweisen.
In neuer personeller Ausrichtung setzte die GmbH dieses Vermächtnis in den letzten 50 Jahren fort, v.a. durch auswärtige Bauprojekte für Menschen in Existenzunsicherheit,, z.B. nach der Tschernobyl-Katastrophe in Belarus durch das Umsiedlungsprogramm „Heim-statt Tschernobyl“ oder durch das Fünfjahresprogramm „ Roma zuhause in Ungarn fördern“ – gleichbleibend unter dem von Anfang an bestehendem Zwecks der „Förderung der Lehmbau- und Heimstättengedankens“.